Spektakulär

Kultursommer der Extraklasse: Metz feiert ihre Mirabelle
Ein weißer Kugelblitz trifft die Kreuzblume am Turm der Kathedrale Saint-Étienne. Aus 88 Metern Höhe bricht ein Stein heraus und stürzt in die Tiefe. Ein erneuter Treffer am Wimperg, oberhalb der elf Meter großen Rosette.
Wieder löst sich ein Quader, dreht sich um die eigene Achse und sprengt auf seinem Weg nach unten weitere Blöcke aus dem Portal. Meter um Meter stürzt das Gotteshaus in sich zusammen. Dann: Staunende Stille - und brandender Beifall.
Der Einsturz des Hauptportal der Kathedrale von Metz - nach Amiens und Beauvais der dritthöchste gotische Dom Frankreichs - ist Teil eines faszinierenden dreidimensionalen Lichtspektakels und einer der Höhepunkte des Mirabellenfests der lothringischen Hauptstadt.

Jeden einzelnen der 25 000 Steine der Fassade hat der Videokünstler Yann Nguema dafür genauestens ausgemessen und digitalisiert. Zurückgeworfen auf das für die Ewigkeit gebaute Gotteshaus formen sie sich zu Drachen, die drohend auf die Zuschauer blicken, zerfließen wie Eisskulpturen in der Sommerhitze oder steigen in den Metzer Nachthimmel, tausend Fledermäusen gleich, die ihre Höhle bei Vollmond verlassen.

"Wir versuchen Tradition und Moderne miteinander zu verbinden", erklärt Hacène Lekadir. Das Fest - ausgetragen seit 1947 - brauche neue Impulse, damit die Jugend mitmacht, so der Metzer Kulturdezernent. Die Lichtspektakel an fünf verschiedenen Orten der Altstadt sind dabei die wohl spektakulärsten, aber nicht die einzigen.
Mehr als 40 verschiedenen Events haben die Veranstalter auf die Beine gestellt: Von den Pop-, Rock- und Hip-Hop-Konzerten am Place d´Armes vis-a-vis der Kathedrale, über Straßenzirkus-, Kabarett- und Theateraufführungen, die sich auf die ganze Altstadt verteilen, bis zum Markt regionaler Produkte an den Esplanaden. "Der Star der Veranstaltung bleibt aber die Mirabelle, das Wahrzeichen unserer Region", so der Lekadir.

Der Anbau des schmackhaften Steinobstes ist in Lothringen seit 1490 dokumentiert, doch so richtig Schwung nahm die Produktion erst vor gut 100 Jahren auf. Damals vernichtete die Reblaus die Weinstöcke der Bauern. Auf der Suche nach einer Ersatzfrucht kam man schnell auf das Rosenholzgewächs, das an den lehmigen Maas-Hängen bestens gedeiht.
Heute prägen rund 250 000 Mirabellenbäume die Landschaft zwischen Nancy und Metz. Kein Verger, kein privater Obstgarten, in dem nicht mindestens ein Baum steht. Die Jahresproduktion beträgt rund 15 000 Tonnen; das sind 70 Prozent der weltweit geernteten Früchte.

"Die Mirabelle hat vielen lothringischen Bauern die Existenz gesichert und bietet vielen Menschen in der Region ein Einkommen", weiß Marie-Héléne, "vielleicht haben wir deshalb so eine innige Beziehung zu ihr". Auch für die 40-Jährige waren die Früchte des Rosengewächses ein Rettungsanker in der Not: Nach ihrer Scheidung musste die 40-Jährige ihren Job an der Sternwarte von Èpinal aufgeben - in einer Zeit, in der Lothringen noch immer an den Nachwehen der Stahlkrise litt und mit knapp zehn einer der höchsten Arbeitslosenrate im Land aufwies.
Doch da auch der Ex-Mann im Planetarium arbeitete, musste einer gehen: "Das war natürlich ich", erzählt die drahtige Französin und dabei schwingt etwas Stolz in ihrer Stimme. So siedelte sie in das rund 150 Kilometer entfernte Metz, wo sie in der Kooperation Jardin Lloraine schnell Arbeit und eine neue Leidenschaft fand.

"Wir verarbeiten die Früchte von fast 400 Obstbauern, machen daraus Marmeladen und Brände, Säfte und Seifen, Tee, Gebäck - und natürlich die berühmte Mirabellen-Tarte".
Beim Einwecken behalte die Mirabelle ihre schöne helle Farbe und wegen des hohen Zuckergehalts sei sie "ideal zum Brennen von Hochprozentigem". Auch das Öl aus den Kernen wird verwendet - für Wellnessprodukte.
Und aus den Blüten, die ab April die Landschaft verzaubern, lässt sich Parfüm herstellen.

Viele der Produkte können Besucher des Mirabellenfests am Place d´Armes probieren und kaufen: 40 Stände bieten dort im Schatten der mächtigen Kathedrale ihre Waren an, nicht nur Mirabellen - auch Gebäck, wie die bekannten Madeleines de Commercy, Akazienhonig aus Raon L Etape oder Landpastete mit Blaubeeren aus den Vogesen.
Der Platz ist Krönungsstätte für die Mirabellenkönigin, Showküche für einen Kochwettbewerb der Profis bei dem natürlich die Mirabelle im Mittelpunkt steht, aber auch Startpunkt für einen großen Blumenkorso, der am Ende der zwölftägigen Feier durch die Stadt des Dichters Rabelais zieht.

Auf den hat Remy Junker wochenlang hingearbeitet: Der ehemalige Lokführer engagiert sich seit seiner Pensionierung beim Secours Catholique, einer von neun gemeinnützigen Vereinen, die für die Ausstattung der Festwägen verantwortlich sind. "Früher", erinnert sich der 1955 Geborene, "reichte ein Blumenboquet", heute müsse alles immer größer und spektakulärer sein.
Gezogen von schweren Traktoren schmücken überdimensionale Figuren die Wägen. Nächtelang habe man dafür Bilder entworfen, Gerüste und Verkleidungen gebaut, so Remy. "Am Vorabend des Fests kommen dann die Blumen aus Holland und werden von den 90 Helfern gleich verarbeitet". Zehn, elf Stunden dauere es, bis die rund 170 000 roten, gelben, violetten und weißen Blumen bunte Papageien formen, Raumschiffe oder den Drachen Graoully - das Wappentier von Metz.
Sonntag, Punkt 15 Uhr startet dann die bunte Prozession durch die Straßen der alten Bischofsstadt - vorbei am Centre Pompidou Metz, einem futuristischen Zentrum für moderne Kunst, über den Place Saint-Louis mit seinen mittelalterlichen, von Arkaden gesäumten Kaufmannshäusern, bis zum Maison des Tetes, einem Renaissancehaus von 1529, das reich mit Reliefs und Büsten geschmückt ist.
Angeführt wird der Zug von der Mirabellenkönigin und ihrem Hofstaat, begleitet von Trommlern, Marschkapellen oder Sambatänzerinnen und bejubelt von tausenden Zuschauer, die sich an den Straßenrändern drängeln und dem karnevalesken Schauspiel tosenden Beifall spenden.