Mehr als nur Autos

Turin: Paradies für Genießer

Turin, Piazza della Repubblica. 07:30 Uhr morgens. Ein Stimmengewirr aus sizilianischen, piemontesischen und nordafrikanischen Dialekten steigt zwischen den weißen und roten Schirmen der Marktstände empor. Hausfrauen aus dem Arbeiter-Kiez Madonna di Campagna, Damen aus dem Bohème-Viertel Borgo Dora, verschleierte Muslimas aus San Salvarion, dem einstigen Drogenrevier der Stadt: Sie alle drängen sich durch die engen Gassen des Mercato di Porta Palazzo in Turin.
Rund 800 Stände machen den Platz zum größten Freiluftmarkt Europas. Nichts, was es hier nicht gibt: Afrikanische Masken und italienische Bürsten, Weine aus dem Piemont neben Öl aus Ligurien, die traditionsreichen Gianduiotti-Pralinen neben handgerollten Grissini-Stangen - beides typische Produkte der Autostadt.

Für ihr Geschäft sucht auch Claudia auf dem Markt nach frischen Produkten. Heute sollen es Artischocken sein. Die will die Pasticceri später zu Raviolo in Corona verarbeiten: Ein Pastastrang, gefüllt mit einer Farce aus dem Blütengemüse, der zu einer Krone gerollt und dann im Ofen mit Käse gratiniert wird. Die aus dem Süden Italiens zugewanderte junge Frau liebt Pasta - und bei Iva und Maurizio Tassinari, Inhaber des Pastificio Sapori & Pasta, hat sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht.
Seit gut 30 Jahren entstehen hier den ganzen Tag frische Nudelkreationen- in liebevoller Handarbeit. Wer sich in den kleinen, unscheinbaren Laden in der Via Mazzini verirrt, unweit der Piazza Castello, kann Claudia und ihren Kolleginnen zusehen, wie sie den Teig kneten, die Nudeln rollen oder füllen - und die vielen so entstandenen Köstlichkeiten nach Hause tagen oder gleich vor Ort genießen.

„Es gibt so unfassbar viele Pastasorten in Italien“ erzählt die 30-Jährige begeistert: Capellini und Cappelletti. Strascinati und Stringozzi. Tortelli und Torellini. Jede Region, fast jede Stadt habe ihre eigene Spezialität - „auch Turin“: Agnolotti heißen die kleinen, mit Reis, Spinat, Kaninchen-, sowie Kalbs- und Schweinefleisch gefüllten Taschen.
Mit einer Falte, die die Nudel wie einen Bauchnabel aussehen lässt, sind es Agnolotti al plin. In den feinen Turiner Restaurants serviert man diese lokale Spezialität auf einer weißen Stoffserviette, damit nichts von der Schönheit und dem Geschmack der Pasta ablenkt.

Turin, Italiens viertgrößte Metropole, wird noch heute vor allem mit zwei Dingen im Verbindung gebracht: Der Automarke Fiat und dem Fußballverein Juventus Turin. Dabei war die Stadt am Po - immerhin 298 Jahre Herrschersitz der Savoyer und 1460 Tage Hauptstadt des vereinigten Italiens - stets auch eine Metropole des Genusses. Feinschmecker verdanken ihr zahlreiche Delikatessen: Vermouth, Grissini oder Zabaione beispielsweise.
„Und, nicht zu vergessen: das dunkle Nougat“, erklärt Guido Castagna. Während der Zeit Napoleons belegte der französische Kaiser Kolonialwaren aus England mit hohen Zöllen - darunter auch Kakao. Findige Turiner Chocolatiers streckten die teure Schokoladenmasse mit gerösteten und gemahlenen Haselnüssen aus der Region, weiß der Gründer der gleichnamigen Cioccolateria an der Via Maria Vittoria. Aus der Verlegenheitslösung wurde bald eine beliebte Spezialität: Gianduitto.

Guido - Gewinner von vier Gold- und drei Silbermedaillen beim Londoner Chocolate World Cup 2016 - stellt eine eigene Version der Gianduitto her: „Dafür haben wir das 150 Jahre alte Rezept abgeändert, Milch und Kakaopulver rausgenommen, mehr Haselnüsse in einer extra entwickelten Maschine noch feiner gemahlen“. Wichtig sei auch die Auswahl des Kakaos, so der mehrfach ausgezeichnete Chocolatier.
„Es kommt auf Sorte und Herkunftsland an“. Der aus Venezuela sei besonders blumig, Bohnen aus Madagaskar dagegen etwas spicy. „Wir benutzen ausschließlich Bohnen der Sorten Criollo, Trinitario und Arriba Nacional Forastero“, lassen sie zwölf Monate trocknen und rösten sie bei maximal 110 Grad“. So erhalten sie das volle Aroma. Produktion und Geschäft schließen im Sommer. „Dann ist es zu heiß für Schokolade, die Qualität würde leiden“.

Mächtig stolz sind die Turiner auch auf ihre Kaffehauskultur: „Als man im Rom um 1800 die schwarze Bohne noch als Teufelszeug verbannte, amüsierte sich das liberale Bürgertum der Stadt bei einer Tasse Kaffee“, weiß Emanuela Moroni. Noch heute gebe es im Zentrum Dutzende alte, holzvertäfelte Kaffeehäuser mit prächtigen Leuchtern, Spiegeln und goldverzierten Namensschildern, so die Stadtführerin.
Beispielsweise das Caffè Mulassano nahe der Piazza Castello. Hier wurde 1926 eine weitere Spezialität erfunden, die heute Millionen Italienern den ersten kleinen Hunger des Tages stillt: Der Tramezzino, eines der am meisten gegessenen Sandwichs der Welt. Im historischen Kaffeehaus serviert man es heute unter anderem mit Hummer, Trüffel oder Bagna Cauda.

Ein besonderes Kaffeehaus ist auch das 1763 gegenüber der Wallfahrtskirche Santuario della Consolata gegründete Caffè Al Bicerin. „Ein Ort der Schlemmerei - und in Sichtweite des Gotteshauses damals eine Provokation“, sagt Emanuela. Dort serviert man seit rund 250 Jahren Bicerin: Ein verführerische Melange aus einer Schicht heißer, süßer Schokolade, einem rabenschwarzen Espresso und frischer Sahne.
Die Bohnen für das von Alexandre Dumas und Friedrich Nietzsche in den höchsten Tönen gelobte Getränk stammen ebenfalls aus der Stadt: Turin beherbergt zahlreiche Kaffeeröstereien. Manche, wie das Costadoro, sind Globalplayer mit einer Jahrhundertealten Tradition, andere wie Mokabar, klein, aber modern und innovativ.

Ein gute Gelegenheit die Kaffeeszene der Fiat-Stadt kennenzulernen, bietet übrigens das Festival Turin Coffee: Jedes Jahr im Juni treffen sich am Piazza Carlo Alberto die großen und kleinen Kaffeeröstereien der Stadt und laden zum Verkosten ihrer Spezialitäten ein.
Neben den Café-Ständen gibt es eine Bühne auf der engagiert über Kaffee diskutiert wird und Köche zeigen, warum die Bohne nicht nur in die Tasse, sondern auch in die Pfanne gehört. Rund 30 Baristas schenken an zwei Tagen rund 28 000 Tassen Kaffee aus. Außerdem gibt es kleine Gerichte, Süßes oder Cocktails auf der Basis von Kaffee.

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