Mastix

Einmalig: Das Harz der Pistazien auf Chios
Mesta, früh am Morgen. Mit einem scharfen Messer ritzt Vassilis Ballas vorsichtig eine kleine Kerbe in den Stamm der Pistazie: „Nur fünf Millimeter tief, damit der Baum kein Schaden nimmt“. Eine Handbreit weiter links setzt er erneut an, dann ein beherzter Schnitt etwas darüber.
Nach einer guten Stunde hat er mehrere Bäume bearbeitet und die Kreideschicht, die er vor Tagen um die Stämme gestreut hat, erneuert. „In ein paar Wochen kommen wir wieder“, dann habe der Baum zum Schließen der Wunde Harz gebildet: Mastix!
Vassilis und seine Frau Roula sind vor elf Jahren aus Athen in das mittelalterliche Mesta auf der Insel Chios zurückgekehrt. Die Siedlung ist eines von 20 Mastichochoria, Dörfern die ihren Reichtum dem Mastixanbau verdankten.
Als Grafikdesigner habe er in der griechischen Hauptstadt zwar ordentlich Geld verdient, „aber es fehlte uns an Lebensqualität“, begründet der 43-Jährige seine damalige Entscheidung. So wurde die Wohnung in der Stadt verkauft und von dem Geld der Pistazienhain des Großvaters aufgestockt. „Seitdem lebt die jahrhundertealte Tradition unserer Vorfahren wieder auf“.

Denn das Harz der Pistacia Lentiscus var. Chia, so die lateinische Bezeichnung, wird seit dem Altertum in Chios angebaut und in alle Welt exportiert. Ägypter verwendeten es zum Einbalsamieren ihrer Mumien, der griechische Arzt Dioscorides lobte dessen heilende Wirkung bei Magenverstimmungen oder Schnittverletzungen, die von wissenschaftlicher Seite längst bestätigt ist.
Und arabische Scheichs und osmanische Sultane nutzten die Tränen der Pistazie zum Räuchern ihrer Paläste und Harems oder zum Würzen ihrer Speisen und Getränke.

Heute gibt es 2,5 Millionen Pistazienbäume auf Chios, die jährlich bis zu 150 Tonnen Mastix liefern. „Ein weltweit einmaliges Produkt“, erklärt Ballas stolz: Nur im Süden der Insel sei Bodenfruchtbarkeit, Mikroklima und Niederschlagsmenge derart, dass der Baum das wertvolle Harz erzeugt.
Versuche die Pistazienvarietät an anderer Stelle zu verpflanzen und - ähnlich wie mit Kaffee, Muskat oder Kakao - dort die Produktion von Mastix zu starten, schlugen allesamt fehl. „Warum, können auch die Wissenschaftler nicht endgültig erklären“.
Für die Insel in der Nordägäis, keine zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt, ist dieses botanische Rätsel ein Glücksfall, brachte es ihren Bewohnern doch Reichtum und Wohlstand. Vor allem als sich mit Beginn des 14.Jahrhunderts die Genuesen des Eilands bemächtigten und das Geschäft professionalisierten.
Die pfiffigen Kaufleute perfektionierten Anbau und Verarbeitung, organisierten den Handel mit Kairo, Istanbul und Rom und sorgten dafür, dass ein Teil des Gewinns auf Chios blieb. „Das System war so perfekt“, erklärt Vassilis, „dass die Türken, nach der Eroberung der Insel 1566, die Italiener frei gewähren ließen und den Mastixdörfern eine lokale Selbstverwaltung zubilligten“.
Eines dieser Dörfer ist Pyrgi: Seit 2011 Teil des immateriellen Weltkulturerbes der Unesco, rund 750 Einwohner und für Ana Benetton das schönste der Insel: „Es gibt hier noch 500 traditionelle Sgraffito-Häuser“. So bezeichnet man eine Dekorationstechnik, bei der verschiedene Putzschichten aufgetragen und dann mit einer besonderen Kratztechnik freigelegt werden. „Heraus kommen wunderschöne, meist geometrische Formen an den Fassaden“, so die Architektin.
Auch die Struktur des mittelalterlichen Wehrdorfs ist noch zu erkennen: Die Randhäuser stehen dicht aneinander, ohne Türen oder Fenster an der Außenseite. Eine gewölbeförmige Kuppel über den engen Gassen verbindet einzelne Häusergruppen. „Bei Gefahr gelangten die Bewohner über die Dächer in den Verteidigungsturm in der Mitte des Dorfes“, erklärt die gebürtige Chiotin.
Die alten Gemäuer zu bewahren hat sich Ana, deren Eltern in Pyrgi geboren wurden, zur Lebensaufgabe gemacht. Nach modernen Vorstellungen ist so ein Haus alles andere als komfortabel: „Die Räume sind klein, Fenster gab es früher keine, Luft und Licht drangen allein durch ein Atrium im zweiten Stock in das Wohnzimmer“.
Aber nur wenn die Menschen die Häuser auch bewohnen, können sie langfristig erhalten werden. Also hilft die blonde junge Frau beim Umbau, lässt Wände durchbrechen und Fenster in den Stein schlagen und sorgt mit frischer Farbgebung für ein luftiges, geräumiges Ambiente.

Auch das Haus von Vaso Kapetanou hat Ana modernisiert. Die Familie der Mastixbäuerin lebt seit Jahrhunderten in Pyrgi. Gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet die 58-Jährige mehrere Plantagen in der Umgebung, ein Nachbar hilft dabei. Rund 1500 Bäume sind im Familienbesitz. „Die meisten zwischen 20 und 50 Jahre alt, also in ihrer produktivsten Zeit“. 160 bis 180 Kilo des kostbaren Harzes erntet die Familie Jahr für Jahr. Schwere Handarbeit noch immer: Nachdem das Harz vom Boden gesammelt und vom Stamm gekratzt wurde, muss es mit feinem Finger von Blattresten, Erdklumpen oder angeklebten Insekten befreit werden, dann wird es gewaschen und sortiert.
„Von September bis in den Februar hinein sitzen wir am Küchentisch und putzen“, erzählt Vaso, „manchmal zwölf Stunden am Tag“. Weil dabei Nachbarn, Freunde und Verwandte zusammenkommen, sei das auch immer ein soziales Ereignis. Nicht nur im Hause Kapetanou: Oft sieht man im Herbst und Winter in Pyrgi Gruppen von meist älteren Frauen, die auf der Straße oder an einem Platz gemeinsam die Jahresernte säubern. Dann erfüllt der frische Duft des Harzes die Gassen des Dorfes.